Interview mit Risikoforscher Bernhard Streicher zu Lawinen-Airbags und Risikowahrnehmung
Für die Ausgabe #5 / 2016 von Allmountain wurde ich u.a. interviewt zur Frage, ob Lawinen-Airbags die Risikobereitschaft erhöhen. Meine Antwort: Entscheidend ist, wie gut unsere innere Wahrnehmung ist. Was damit gemeint ist, steht ausführlich in einem bergundsteigen-Artikel von mir zur reflexiven Lawinenkunde (link s. am Text Ende). Im folgenden das Interview in Allmountain.
Herr Streicher, im Februar 2015 ist ein ortskundiger Bergretter auf Solo- Skitour verschüttet worden, er wurde mit Glück gerettet. Er gab im Nachhinein zu, ein schlechtes Bauchgefühl gehabt zu haben. Durch das regelmäßige Üben mit Lawinen-Airbags habe er sich aber „das Risiko bewusst schöngefärbt“. Was ist da psychologisch passiert?
In solchen Unfallberichten gibt es fast immer einen Punkt, an dem die Leute sagen: „Eigentlich haben wir es gewusst!“ Menschen haben gern Kontrolle, sie sind bestrebt, sich die Wirklichkeit schlüssig zu erklären. Das erzeugt ein Gefühl von Kontrolle im Nachhinein. Philosophisch ist daran interessant, dass seit der Aufklärung als gut angesehen wird, was rational ist – und alles Emotionale als schlecht. Auch in der Lawinenkunde hat man als Erstes versucht, die Physik mittels Schneeforschung in den Griff zu kriegen. Das ist wichtig, aber es funktioniert auf individueller Ebene nicht. Wir denken immer, ein rationales Herangehen ist das Bessere. Wir müssten aber gleichzeitig unsere innere Wahrnehmung schulen – im Sinne reflexiver Lawinenkunde.
Was bedeutet das?
Wir müssten nicht nur auf äußere Faktoren hören, etwa das klassische Wumm-Geräusch, sondern auch nach innen. Ob wir zum Beispiel ein schlechtes Bauchgefühl haben, oder merken, dass wir momentan nicht in der Lage sind, gute Entscheidungen zu treffen – weil wir abgelenkt oder erschöpft sind. Das sind wichtige Warnsignale. Unser Gehirn merkt sich bei einer Entscheidung nicht nur die Situation, es speichert gleichzeitig auch unsere emotionalen und physiologischen Zustände. Ob wir aufgeregt waren, einen hohen Puls hatten – über Nervenverbindungen von den Organen zu Hirnbereichen werden solche Muster, auch somatische Marker genannt, gespeichert. Wenn wir dann in eine ähnliche Situation geraten, wird eine Passung abgerufen. Bei Abweichungen haben wir ein ungutes Gefühl, gibt es eine Passung, haben wir ein besseres Gefühl.
Auf die Intuition zu vertrauen, ist also gar nicht so verkehrt?
Ohne Intuition hätten wir jeden Tag Hunderte Verkehrstote. Verkehr ist ein gutes Beispiel: ein hochkomplexes, dynamisches Geschehen, in dem alle Akteure ständig intuitive Entscheidungen treffen.
Der Vergleich mit dem Lawinen-Airbag liegt ja auf der Hand – angeblich besagen Studien, dass nach der Einführung des ABS im Auto schneller gefahren wurde. Das Risiko bleibt also gleich hoch?
Die berühmte Münchner Taxi-Studie, ja. Sie stützt das Risiko-Homöostase-Modell, auch Risikokompensation genannt. Das Modell behauptet, dass Menschen ein individuelles Niveau von Risiko haben, das sie bereit sind, einzugehen – im Sport, beim Autofahren, bei Finanzen, ganz egal. Wenn jetzt eine Maßnahme hinzukommt, die Sicherheit erhöht oder Risiko reduziert, dann kompensiere ich diese Maßnahme dadurch, dass ich mich riskanter verhalte. Bei der Taxi-Studie sind die Unfälle mit Taxis tatsächlich nach oben gegangen. Das kann daran liegen, dass sie tatsächlich schneller gefahren sind, es kann aber auch daran liegen, dass alle anderen Verkehrsteilnehmer kein ABS hatten. Als der Airbag im Auto eingeführt wurde, gingen die Verletzungszahlen jedenfalls faktisch nach unten. Da greift die Risikokompensation nicht.
Warum nicht?
Ein entscheidender Punkt ist: Erlebe ich die Risikoreduktion bewusst oder nicht? Ein ABS erlebe ich unmittelbar beim Bremsen. Ein Airbag-System im Auto erlebe ich erst, wenn’s kracht, also selten.
Wo sortiert sich der Lawinen-Airbag im Sinne von Risikokompensation ein?
Das kommt auf den Benutzer an. Ein Verkäufer eines Münchner Fachgeschäftes hat mir mal erklärt, dass zu ihm Kunden kommen und sagen: „Ich würde gerne Tiefschnee fahren. Ich habe gehört, da gibt es einen Airbag, mit dem ist man sicher.“ Diese Personen nehmen Lawinen-Airbags als Sicherheitsgarant wahr. Das ist hochproblematisch, denn dann kann ein Airbag tatsächlich zu riskanterem Verhalten führen. Wenn ich den Airbag als ein Mosaik in meinem Risikokonzept wahrnehme und ich mir im Klaren bin, dass er nur in bestimmten Situationen ein Sicherheitsplus darstellt, dann sollte es nicht zu Risikokompensation kommen.
Ist es eine Charakterfrage, ob man besonders anfällig für Risikokompensation ist?
Personen unterscheiden sich schon darin, dass sie risikoreiche Situationen mit körperlicher Gefährdung eher aufsuchen oder eher vermeiden. Das erklärt aber nicht alles, denn Freerider oder Tourengeher sind ohnehin eher dem risikobereiteren Kreis zuzurechnen. Sehr risikoaverse Personen machen solche Tätigkeiten sowieso nicht.
Im Magazin bergundsteigen stand 2013: „Mit Airbag wird bei Entscheidungen auf der Kippe halt eher gefahren. Das kann ich nicht beweisen, aber vielleicht findet sich einmal ein Nachwuchsforscher, der das untersucht.“ Was meinen Sie?
Spannender ist: Welche Person neigt unter welchen Bedingungen dazu, eher zu fahren? Vielleicht ist es so, dass eher gefahren wird. Aber es ist sicher nicht so, dass das für alle Personen gilt. Ich persönlich habe kein Problem damit, wenn sich jemand der Gefährdung bewusst ist und alle Informationen wahrnimmt, sie abwägt und für sich die Entscheidung trifft. Das ist akzeptabel im Sinne einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung. Problematisch fände ich, wenn es diese bewusste Entscheidung, das Wissen und die Erfahrung nicht gibt, und jemand fährt, weil er sich dank Airbag sicher fühlt. Das ist keine Eigenverantwortung. Individuelle Entscheidungen müssen aber Teil des Bergsteigens bleiben. Weder kann man darüber urteilen noch kann es eine institutionelle Regelung für so etwas geben.
Gilt das auch für LVS, Schaufel und Sonde, die in puncto Risikokompensation eigentlich unverdächtig sind?
Beim LVS-Gerät gab es früher genau die gleiche Diskussion wie heute mit den Airbags, mit ähnlichen Argumenten: „Mit einem Pieps fahren die Leute überall rein, weil sie schnell gerettet werden können“. Heute weiß jeder, dass das nicht der Fall ist. Und: Bei LVS-Gerät, Schaufel und Sonde sind Gewöhnungseffekte eingetreten, die nehmen wir nicht mehr pausenlos wahr. Daher beeinflussen sie uns auch weniger. Beim Airbag spüre ich – beim Freeriden vielleicht weniger, aber beim Bergsteigen auf jeden Fall – einen Gewichtsunterschied. Dadurch ist mir das permanent bewusst. Und ich sehe dauernd den Auslösegriff. Es kann schon problematisch sein, dass die Sicherheit ständig suggeriert wird.
„Stell dir vor, du stehst nackt am Hang!“ Ist das ein guter Ansatz, sich gegen Risikokompensation zu wappnen?
Man kann sich auch fragen: „Wenn ich jetzt reinfahre und es passiert etwas – hätte ich es vorher wissen können?“ Solche ritualisierten Gewohnheiten können einerseits für die Entscheidungsfindung hilfreich sein. Etwa wie der Partnercheck beim Klettern. Vor der Tour nochmal innehalten und sich fragen, ob die Planung mit den Verhältnissen vor Ort übereinstimmt. Wie geht es mir eigentlich? Bin ich in der Lage, Entscheidungen zu treffen, habe ich genügend Informationen? Das ritualisiert zu tun, kann ungemein helfen. Andererseits sind Rituale auch zweischneidig. Sie geben zwar Struktur und sie helfen, sich auf die Tätigkeit zu fokussieren – damit könnten sie aber auch Risikosignale ausblenden.
Was genau hilft an Ritualen?
Ein Problem ist nämlich, dass wir zu ballistischem Handeln neigen – das heißt, ich treffe eine Entscheidung, führe sie aus und denke nicht mehr nach. Der Klassiker bei der Skitour: Man fällt von zu Hause aus die Entscheidung zum Start, Signale vor Ort spielen eine untergeordnete Rolle. Ritualisiertes Innehalten und Nachdenken erfordert Disziplin, aber wenn man solche Checks regelmäßig macht, führt das zu dem Effekt, dass man sich nicht gut fühlt, wenn man sie nicht macht.
Welchen Einfluss hat ein Lawinenerlebnis auf die Entscheidungsfindung?
Wenn ich mich ausprobiere und nie eine negative Rückkopplung bekomme, entsteht ein Sorglosigkeitsdenken. Psychologisch passiert das: Ich mache etwas, es ist gut gegangen, also wird es auch in Zukunft gut gehen. So kann ein unrealistischer Optimismus entstehen, der komfortabel, aber auch gefährlich ist: „Autounfälle gibt es, aber nicht für mich.“ Bei Lawinen ist es genau das Gleiche. Dieses Konstrukt wird durch ein eigenes Erlebnis natürlich massiv erschüttert – was auch sehr positiv sein kann.
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