150 Jahre Deutscher Alpenverein - Blick zum Horizont. Was in Zukunft auf den Alpenverein zukommt: Stimmen aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Sport

Anläßlich seines 150-jährigen Bestehens befragte der Deutsche Alpenverein Experten*innen, berühmte Bergsteiger*innen, Wegbegleiter*innen ... und netterweise auch mich. Hier die Fragen des Alpenvereins und meine Antworten.

1. »Kinder, geht draußen spielen!« Das sagen Eltern immer seltener. Natur, unbeaufsichtigte Räume und kleine Wildnisse vor der Haustür verschwinden aus dem Wohnumfeld. Im Alltag von Kindern spielen sie immer weniger eine Rolle. Was bedeutet das für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen?

Unsere evolutionäre Entwicklung hat in der Natur stattgefunden. Entsprechend bietet Natur, neben vertrauensvollen und wertschätzenden Beziehungen zu engen Bezugspersonen, ideale Anreize für die Entwicklung von Kindern. Kinder erleben in der Natur unendliche Spielmöglichkeiten, können experimentieren, Risiken eingehen, scheitern, sich gegenseitig unterstützen, zusammen ausprobieren usw. Dabei erwerben sie spielerisch Grundlagen für zentrale Kompetenzen wie Frustrationstoleranz, Selbstwirksamkeit, Selbstwert, Risikobewusstsein oder soziale Verträglichkeit. Diese Kompetenzen stehen in einem positiven Zusammenhang mit gesellschaftlichem und beruflichem Erfolg, Lebenszufriedenheit, stabilen Beziehungen und Gesundheit. Wenn zunehmend natürliche Umwelten, in denen Kinder unbeaufsichtigt in gemischten Altersgruppen spielen können, verschwinden, müssen andere Anreize geschaffen werden, damit Kinder die oben beschriebenen Erfahrungen machen können. Wenn Kinder diese Anreize nicht haben, heißt das nicht, dass sie deswegen nicht zu glücklichen oder erfolgreichen Menschen werden, aber das ausgiebige Spielen in der Natur erleichtert eine solche Entwicklung.

2. Der souveräne Mensch, der sein Risiko abwägt und Entscheidungen trifft, für die er später niemand anderen zur Verantwortung zieht: Ist er ein Auslaufmodell der Evolution?

Nein, er ist ein Erfolgsmodell der Evolution. Menschen haben die einmalige Fähigkeit in komplexen Situationen schnell und ohne große Mühen gute Entscheidungen treffen zu können. Voraussetzung hierfür ist ausreichend Erfahrung in ähnlichen Situationen. Ein Lernmechanismus neben persönlichem Ausprobieren ist das Beobachten des Verhaltens von anderen und die Konsequenzen dieses Verhaltens – das so genannte Lernen am Modell. Das heißt, ganz souverän und unabhängig von anderen entscheiden wir meist nie, sondern wir denken, oft unbewusst, immer auch mit, wie andere sich in einer Situation entscheiden würden. Heute bekommen wir für sehr viele Entscheidungen Hilfestellungen. Beispielsweise helfen uns Navigationsgeräten bei Orientierungsentscheidungen, Beurteilungsplattformen bei der Auswahl von Touren oder die Snowcard bei der Einschätzung der Lawinengefährdung. Menschen, die sich der möglichen negativen Konsequenzen von Entscheidungen bewusst sind und daher eigenverantwortlich Entscheidungen mit Hilfe von Hilfsmitteln treffen, ohne diesen blind zu vertrauen, haben Vorteile. Sie haben mehr Handlungsoptionen und sie sollten seltene Risiken eher entdecken. Beides ist wiederum auch ein evolutionärer Vorteil.

3. Ist der sich selbst optimierende Mensch souverän?

Menschen sind immer Kinder ihrer Zeit. Das heißt menschliche Wahrnehmung und Verhalten ist immer auch beeinflusst von den gegenwärtigen ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Bedingungen. In den letzten Jahrzehnten hat eine starke Ökonomisierung zahlreicher Lebensbereiche stattgefunden. Ein Prinzip dieser Ökonomisierung ist Leistung als Wert und Selbstoptimierung als Mittel der Leistungssteigerung. Dieses Prinzip ist auch in der Freizeitgestaltung mittlerweile weit verbreitet. Erholung findet weniger im zweck- und zielfreien Müßiggang auf dem heimischen Sofa statt, sondern im optimierten, durchgeplanten Kurzurlaub im Wellnesshotel. Erlebnisse im Gebirge finden größere soziale Anerkennung und sind in sozialen Medien leichter zu vermitteln, wenn sie Leistungskriterien wie Höhenmeter pro Stunde darstellen oder Eventvorstellungen entsprechen. Kontemplative oder romantische Erlebnisse wie ein Berühtsein durch die Schönheit eines Augenblicks oder tiefe, persönliche Gespräche am Standplatz mit dem Seilpartner entsprechen nicht diesen Kriterien. Aber unabhängig davon, dass Menschen immer auch von ihrer Umwelt beeinflusst sind, verliert der Mensch in dem Maße an Souveränität wie sehr er sein Sein nach äußeren Erwartungen gestaltet.

4. Die Flucht aus dem Alltag bedient einen großen Markt – nicht nur in der analogen Welt der Berge, sondern auch in den virtuellen Welten der Computerspiele oder im Fantasy-Mittelalter von »Game of Thrones«. Nimmt der Eskapismus in unserer Gesellschaft zu? Und, wenn ja, ist das schlimm?

Eskapismus ist nicht nur Flucht aus dem Alltag, sondern beinhaltet auch die positive menschliche Fähigkeit, sich andere Realitäten vorzustellen, Visionen zu entwickeln, und besser mit negativen Lebensbedingungen zu Recht zu kommen. Tagträumen und spielen sind ebenso Formen von Eskapismus wie Drogen- oder Internetsucht. Eskapismus ist also eine menschliche Eigenschaft, die positive und negative Seiten hat. Problematisch wird die Flucht aus dem Alltag, wenn sie alltagsbestimmend wird: Wenn das Leben in der Scheinwelt vermeintlich leichter gelingt und das eigene Denken und Handeln bestimmt. Gleichzeitig aber die zugrunde liegenden privaten oder gesellschaftlichen Probleme nicht angegangen werden. Stress, wie er beispielsweise durch überhöhte Leistungsanforderungen erzeugt wird, fördert Eskapismus. Für den Einzelnen mag es in diesem Beispiel eine sinnvolle Lösung sein, durch Eskapismus den Stress zu reduzieren. Für eine Gesellschaft ist es aber bedenkenswert, wenn sich die Menschen der gesellschaftlichen Realität durch Flucht in Parallelwelten entziehen. Verschärfend kommt hinzu, dass virtuelle Welten wie Computerspiele oder soziale Medien häufig sehr stark zentrale soziale Motive wie nach Anerkennung, Zugehörigkeit oder Neugierde befriedigen und dadurch Eskapismustendenzen verstärken.

5. Was verrät der Wirbel um die Künstliche Intelligenz über den Stand der natürlichen Intelligenz?

Nichts – zumindest bedeutet künstliche Intelligenz nicht automatisch den Verlust natürlicher Intelligenz. In den Industriestaaten hat die kognitive Leistungsfähigkeit, also Intelligenz, von Menschen in den letzten hundert Jahren im Durchschnitt kontinuierlich zugenommen. Diese Zunahme hat viele Gründe wie bessere Bildungsmöglichkeiten, bessere Ernährung, bessere Förderung oder die geringe Belastung mit Umweltgiften. Um die Softwarealgorithmen und die technische Umsetzung für künstliche Intelligenz entwickeln zu können, braucht es zunächst einmal ein hohes Maß an natürlicher Intelligenz. Derzeit ist künstliche Intelligenz noch weit davon entfernt, selbst für Menschen relative simple kognitive Herausforderungen zu bewältigen wie die räumliche Orientierung in beliebigen Räumen mit unterschiedlicher Ausstattung. Was wir derzeit – wie auch schon bei früheren technischen Entwicklungen in der Menschheitsgeschichte – erleben, ist eine Verringerung der kognitiven Teilleistungsbereiche, für die es technische Lösungen gibt. Ein Beispiel hierfür ist die Orientierung im Gelände, bei der sich Menschen zunehmend auf Navigationssysteme verlassen und dabei ihre eigenen Kompetenzen nicht mehr trainieren.

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